Montag, 9. Mai 2011

Portrait: Lizzy Mercier Descloux

Lizzy Mercier Descloux
Lizzy Mercier Descloux
Lizzy Mercier Descloux war eine Avantgardistin. In ihrer Musik verband sie die Popmusik der New Yorker No Wave Szene und dem, was man so Weltmusik nennt. Sie war stets unterwegs, auf musikalischen Reisen durch Äthiopien, Südafrika aber auch Südamerika. Ihre scheinbare Rastlosigkeit und ihre Idee verschiedene Musikstile zusammen zu bringen, erinnerten nicht selten an die spätere Arbeit eines Bill Laswell. Im Gegensatz zu ihm nahm sie jedoch nahm nur eine handvoll Alben auf; sie spielte in kleinen Filmen ebenso kleine Rollen, schrieb Musik für Soundtracks und widmete sich in den letzten Jahren ihres Lebens der Malerei.

Keine zwanzig Jahre war sie alt, als sie 1975 erstmals nach New York kam, wo sie sich sofort wohl fühlte und in Künstlern wie Patti Smith oder Richard Hell Freunde fand, die beide Material für ihr erstes Buch Desiderata beisteuerten. 1976 siedelte sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Michel Esteban ganz über, kaufte sich eine Gitarre und begann ihre Musikerkarriere.

1978 veröffentlichte sie unter dem Namen Yemen Rosa gemeinsam mit Didier Esteban (D.J. Barnes) ihre erste 6-Track-EP auf dem Label des von Michel Esteban und Michael Zilkha gegründeten Labels Ze Records. Ein Jahr später folgte das legendäre Debutalbum Press Color, das heute zu den Klassikern der No-Wave-Genres zählt. Mercier-Descloux' minimalistisches, etwas schräges, zappeliges funky Gitarrenspiel prägte das Album ebenso, wie ihr atemloser, oft auch disharmonischer Gesang. Zu dieser Zeit lernte sie Jean Michel Basquiat kennen, der ihr eine stetige Inspirationsquelle werden sollte.
Mit ihrem zweiten Album, 1981 von Chris Blackwell auf dessen Island Label realisiert, vereinigte Lizzy Mercier Descloux erstmals afrikanische Musik mit Funk, Rock, Soul und Reggae, eingespielt in den legendären Compass Point Studios auf den Bahamas gemeinsam mit Steven Stanley and Keyboarder Wally Badarou. Auch wenn der kommerzielle Erfolg ausblieb, sorgte diese Produktion für einen Vertrag mit der französischen CBS. Mit dem Song Mais où Sont Passées les Gazelles?, inspiriert durch die Musik, die sie auf einer Reise durch Soweto gehört hatte, hatte sie in Frankreich einen Überraschungshit, der im Sommer 1984 auf allen Sendern spielte.

Der Song erschien dann etwas später auf Mercier Descloux' nächsten Album Lizzy Mercier Descloux (2006 als Zulu Rock wiederveröffentlicht), das größtenteils in Südafrika eingespielt war. Heute angehört, nimmt dieses Album erstaunlicherweise Paul Simons Graceland-Album (das erst 1986 erschien) vorweg. Nur ohne dessen Erfolg; obwohl es durchweg beste Kritiken erhielt und noch heute bei vielen Experten ganz oben in deren Lieblingslisten rangiert.
Angestachelt von diesem Projekt versuchte sie sich einen Traum zu erfüllen: afrikanische Musiker mit Musikern aus New Orleans zusammenzubringen. Das scheiterte allerdings an den südafrikanischen Behörden, die sich weigerten entsprechende Visa auszustellen.

Stattdessen reiste sie 1985 nach Rio de Janeiro, um dort ein Album mit lokalen Musikern einzuspielen. Auf dem RIO Jazz Festival traf sie überraschend auf Chet Baker, den sie spontan ins Studio einlud und der auf fünf Songs die Trompete spielte. Das Ergebnis war One For The Soul ein Album "mit Seele für die Seele", wie Lizzy Mercier Descloux es einmal selbst bezeichnete. Für mich persönlich ihr bestes Album. Es zeichnet sich durch eine wunderbar relaxte, ja zarte aber keineswegs oberflächliche Atmosphäre aus.

Ein Album sollte noch folgen. Suspense spielte sie 1988 mit Mark Cunningham, Trompeter der Postpunkband Mars, in London ein. Das Album brach mit ihren zuletzt benutzen Stilmitteln. Es klingt wie ein britisches Pendant zu ihrem ersten Album, mit guten Musikern eingespielt, aber leider ohne die zündende Idee, ohne einen roten Faden, der ihre vorherigen Alben stets zusammenhielt.

Mitte der Neunzigerjahre hat Lizzy Mercier Descloux angeblich noch einmal einen Versuch gestartet und in New York ein Album eingespielt, das jedoch unveröffentlicht blieb. Gleichzeitig widmete sie sich wieder verstärkt der Malerei und schrieb einen Roman mit dem Titel Buenaventura. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie auf Korsika, wo sie im April 2004 starb.

Discografie

Lange Jahre waren Lizzy Mercier Descloux' Alben nicht erhältlich. Einerseits, weil sie auf verschiedenen Labels erschienen waren, andererseits weil ihr "Hauslabel" Ze Records seinen Betrieb eingestellt hatte. Doch 2004 öffneten die Online-Pforten des neu aufgelegten Labels und seitdem ist das Werk von Mercier Descloux erfreulicherweise auch wieder verfügbar, zumal sich Ze Records zuletzt auch um die Rechte der Alben bemühte, die ursprünglich bei anderen Labels erschienen waren.

Doch Vorsicht: zumindest bei One For The Soul wurde statt das Album zu remastern, offenbar ein völlig neuer Mix angefertigt, der vom originalen Album leider nicht mehr viel übrig gelassen hat und dessen angenehme Atmosphäre völlig zerstört hat. Schade! Das mag neuen Hörern nicht so viel ausmachen - Fans des originalen Album hat das allerdings ein wenig schockiert.
  • Rosa Yemen (1978) EP
    2003: auf dem Album Press Color (Ze Records)
  • Fire/Mission Impossible 12"
    2003: download, 12"
  • Press Color (1979) LP
    2003: CD (digipak), LP, download
    2010: CD (MiniLP)
  • Mambo Nassau (1981) LP
    2003: CD (digipak), download
    2010: CD (MiniLP)
  • Lizzy Mercier Descloux (1984) LP, CD
    2006: Zulu Rock CD (digipak), download
    2010: Zulu Rock CD (MiniLP)
  • One For The Soul (1986) LP, CD
    2009: download
    2010: CD (MiniLP)
  • Gypsy Flame/Gueule d'Amour EP
    2003: download
  • Suspense (1988) LP, CD
    2009: download
    2010: CD (MiniLP)
  • Best Off (2006) CD, download
  • From Heaven With Love (2011) download
Alle aufgelisteten Alben und EPs sind derzeit als Download sowohl über Ze Records als auch über amazon erhältlich.
Wer an CDs oder an Vinyl interessiert ist, sollte eher bei amazon vorbeischauen. Da Ze Records derzeit in Brasilien ansässig ist, fallen bei Onlinebestellungen sehr hohe Versandkosten an.
Wer das originale Album One For The Soul im originalen Mix downloaden möchte, kann das hier tun. Der Download ist allerdings zeitlich begrenzt.

Links:
Lizzy Mercier Descloux bei Wikipedia
Lizzy Mercier Descloux bei Ze Records
Richard Hells Nachruf auf Lizzy Mercier Descloux
Ein Nachruf von Oliver Tepel (Spex)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen